Ich liebe dich!
Antonina Stebur
28th May 2019
- Ich liebe dich!
- Oh, sag mir das mit einem Kopfstein in der Hand!
Populärer Slogan der 1968er Bewegung
Im Mai 1968 ging Gilles Karon mit einem einzigen Ziel auf die Straßen von Paris, um die Proteste fotografisch festzuhalten. Heute, wenn man durch diese Fotos schaut, bleibt das Auge immer wieder an der gleichen Figur hängen: die Figur eines jungen Mannes, der einen Kopfstein wirft. Die Bewegung des Körpers auf dem Foto sieht so frei und skulptural aus, dass nur der Faule diese Komposition nicht mit der berühmten antiken Statue des Diskuswerfers vergleicht. Daher stammt wahrscheinlich der Wunsch, das Bild eines Mannes, der einen Kopfstein wirft, als das Bild eines alleinstehenden Helden zu beschreiben, der alleine gegen mehrere monotone Polizeibeamte steht. Einer gegen die ganze Welt ist ein Lieblingsbild der Revolutionshelden.
Aber etwas auf diesem Foto erlaubt es mir nicht, diese Figur einfach als Helden zu beschreiben, wie sie in der klassischen Literatur oder auf Leinwänden von Künstlern dargestellt wurden. Er tritt immer zum Betrachter mit dem Rücken auf, wir sehen sein Gesicht nicht, und das bedeutet, dass dies nicht so sehr ein großer Held ist als eine Funktion, eine Struktur. Dieser Kopfsteinwerfer ist keine bestimmte Person - jeder, der auf die Straßen von Paris ging, war dieser Kopfsteinwerfer.
Mit anderen Worten, wir können hier niemanden bestimmten hervorheben, ein Gesicht, ein Name und es auf die Fahnen setzen, einen Film über diesen Helden drehen, der für die Revolution gelitten hat, oder andere Mythenbildung betreiben. Konkrete Namen entgehen uns immer, wenn wir über die Ereignisse von 1968 sprechen. Dies erklärt das fast vollständige Fehlen großer Erzählungen über Mai ’68. Das Hauptgesicht der Revolution ist kein spezifischer Teilnehmer an den Ereignissen - weder Sartre noch ein rothaariger Denny oder Godard -, sondern der aktuelle Schauspieler Louis Garrel, der in drei Filmen über die Ereignisse von 1968 spielte: "Dreamers" von Bernardo Bertolucci, "Constant Lovers" von Philip Garrel und "The Young Godard" von Michel Hazanavicius.
Aber zurück zu unserer Figur des Kopfsteinwerfers. Als Gilles Caron einen Mann, der einen Kopfstein in Richtung der Polizei wirft, fotografierte, bezog er sich natürlich immer wieder auf bestimmte Personen. Sie haben Namen, Biografien, bestimmte Interessen, aber diese Figur kann nicht heroisiert werden. Genauer gesagt, wenn sie immer wieder mit dem Rücken zum Betrachter aufgenommen wird, wird sie zu einer Universalfigur oder zumindest zu einer Figur, die diese Universalität beansprucht.
In einem der bekannten Slogans vom Mai 1968, die übrigens auch mit dem Werfen von Pflastersteinen verbunden sind, kann ein ähnlicher Übergang von tiefsinnig zu politisch, von privat zu öffentlich, von einzigartig und individuell zu universell gesehen werden. "- Ich liebe dich! - Oh, sag mir das mit einem Kopfstein in der Hand!"
Dies ist auch eine Transformation, eine Lücke, eine Anwendung und ein Anspruch auf das Allgemeine. „Ich liebe dich“ und generell Liebe wird immer als tiefsinnige, wenn man sagen darf, extreme Sinneserfahrung beschrieben. Dies ist eine Erfahrung radikaler Sensibilität, die, wie es auf den ersten Blick scheint, nicht mit jemandem geteilt werden kann (in gewissem Sinne kann sie auch mit dem Gegenstand der Liebe nicht völlig geteilt werden). Der Zustand der Liebe ist das, was auslöst und was das Auslösen verursacht.
Auf eine seltsame Weise ist die Antwort auf das Ersuchen des "Ich liebe dich" die Forderung nach extremer Beteiligung und Öffentlichkeit. Genauso wie wir Liebe als innere Erfahrung radikaler Sensibilität interpretieren können, können wir Partizipation an der Revolution als Aufruf zu radikaler Kollektivität, Ausstieg aus der Privatsphäre in die Öffentlichkeit, als Praxis radikaler Politik verstehen.
Natürlich haben wir immer die Möglichkeit, den Slogan von 1968 im Freudschen Geist zu lesen, als Übertragung oder Sublimation der individuellen libidinösen Energie in das Feld der Macht und der Politik.
Aber vielleicht werden uns diese zwei Bilder: das Bild eines Kopfsteinwerfers, eines Helden/Funktion (Forderung nach dem Universellen) und der Slogan „Ich liebe dich! - Oh, sag mir, mit einem Kopfstein in der Hand!“ (auch eine Forderung nach Universalität) helfen die Fragen erneut zu stellen: Wie sollen wir heute zusammenleben? Vielleicht wird es uns auch helfen, bestimmte Felder und Taktiken für neue Praktiken gemeinsamer ungeteilter Existenz zu finden.
Was zieht uns an dem vor 50 Jahren erschienenen Slogan an? Dies ist eine Feststellung einer Überempfindlichkeit als Prämisse. Wenn wir versuchen, das Paradigma zu beschreiben, das die Welt gerade erst anzunehmen beginnt und das in den 2010er Jahren seine Gestalt angenommen hat, dann wird ihr zentraler Kern die Sensibilität sein. Die Gründe für diese Empfindlichkeit liegen in völlig unterschiedlichen Bereichen und Trends. Wir sind sensibler geworden, weil wir uns konkret und ständig im Wandel befinden. Wir wurden sensibler durch das Aufkommen sozialer Netzwerke, die erfordern, dass wir hier und jetzt reagieren und uns engagieren, da dieser oder jener Beitrag oder Kommentar in wenigen Stunden unter Gigabytes an Informationen verschüttet liegen wird. Wir sind sensibel geworden, als Folge des großen Nachrichten- und Informationsflusses, der über uns strömt. Dies schafft Angst als Hintergrund, wie die Unfähigkeit, unsere Zukunft zu bestimmen und das gesamte Weltbild zu erfassen. Wir sind empfindlich geworden, aufgrund der großen emotionalen und körperlichen Erschöpfung, die mit einem freien und daher unregelmäßigen Arbeitszeitplan und ständigen Überstunden verbunden ist.
Wir sind sensibel geworden und daher reaktiv, was ein grenzenloses Feld für politische und ideologische Manipulationen eröffnet.  Der Rechtsruck und das Machtergreifen konservativer Politiker in den Vereinigten Staaten, Russland, Ungarn, Brasilien und Italien bestätigen nur die Gefahr, die mit der neuen Sensibilität verbunden ist.
Die Identitätspolitik, die als Reaktion auf die heutige Sensibilität und „ethische Raserei“ praktiziert wird, das heißt die Analyse aller Aussagen, vor allem auf die Einhaltung der ethischen Kriterien, führt uns von dem Problem weg und begünstigt die Aufteilung in immer kleinere Gruppen. Zu derselben Zerstückelung trägt in ihrer jetzigen Form auch das Internet bei. Dem Benutzer wird nur das empfohlen und angezeigt, was nicht über die Grenzen seiner üblichen Hashtags hinausgeht, was den Weg zu einem gemütlichen, aber dennoch Ghetto pflastert und zu weiterer Spaltung beiträgt.
Es scheint, dass das Paradigma der neuen Sensibilität keine Chance lässt. Aber vielleicht hat gerade diese Sensibilität das Potenzial, sich dieser Manipulation zu widersetzen und unsere Uneinigkeit zu überwinden. Schließlich folgte der Slogan von 1968 genau dieser Logik, als hypertrophierte Sensibilität zur Grundlage des politischen Kampfs und kollektiven Widerstands wurde.
Im Dreiklang von Politik-Ethik-Ästhetik, richtet sich die Kombination aus Politik und Ethik, die die Vielfalt und Rechte der Unterdrückten behauptet, heute genau in die entgegengesetzte Richtung. Sie etabliert einen konservativen Diskurs und verteidigt die neoliberale Logik. In diesem Sinne kann die Ästhetik oder die Praxis zeitgenössischer Kunst die Antwort auf die Frage: Wie leben wir in einer Ära der Sensibilität zusammen? geben.
Auf einer Veranstaltung der Biennale “Mir bez Truda” beschrieb Alla Mitrofanova was heutzutage mit Ästhetik geschieht und wie sie gegen gesellschaftliche Spaltung und Rückkehr traditioneller Werte funktionieren kann:
Ästhetik wird plötzlich akut politisch, die Existenz selbst wird politisch und ethisch gleichzeitig. Und dann stellt sich heraus, dass Künstler genau diesen Moment der Existenzbildung definieren. Wir haben einfach das Gefühl, dass wir nicht irgendwie abstrakt da sind. Sondern sind wir sind durch die Transformation der Form da und wir brauchen unbedingt eine ästhetische Lösung unserer Form. Tatsächlich wird Kunst daher lebenswichtig, weil wir sonst ohne Kunst und ohne ästhetische Lösung nicht verstehen, wie wir diese fließende Form, die Transformation unserer Existenz, aufrechterhalten können.
Aber wo soll man nach solchen Praktiken suchen? Wie sollen sie sein? Es scheint, dass wir heute in der Kunst die ästhetische Wende beobachten können, die im neuen Paradigma der Überempfindlichkeit funktioniert. Der Zweck einer künstlerischen Gruppe, einer Bewegung oder eines Ereignisses wird keine Ausstellung, kein spezifisches Objekt, sondern die Übertragung von Alltagspraktiken in die zeitgenössische Kunst, die Schaffung von nicht normativen Ereignissen und Räumen. Beispiele für einen solchen Ansatz sind die Künstlerinitiative “Noch'”, die St. Petersburger Bewegung „NIICHEGODELAT’“, die Biennale „Mir biz Truda“ und die Gruppe „RB!OB!“ aus Minsk.
Diese Bewegungen stehen im Zusammenhang mit Neuzusammensetzung der Alltagspraktiken, die einerseits mit dem Thema Sensibilität arbeiten, andererseits auf die Schaffung von Koexistenz abzielen. Zum Beispiel haben im 2018 Mitglieder der RB!OB! mehrere Tage in einem geheimen Sanatorium gelebt, um neue Formen des Zusammenlebens und gemeinsamen Zeitvertreibs zu praktizieren.
Oder die Initiative “Noch’”, in deren Rahmen der Kiewer Künstler und Kurator Nikita Kadan das Programm „Nacht im Wald!“ organisierte, bei der alle Mitglieder der Initiative die Nacht im Wald verbracht haben. Dieselbe Gruppe von Künstlern verbrachte eine Nacht in einem Zugwagen bei ausgeschaltetem Licht.
Alle diese Arbeiten unterscheiden sich grundlegend von den Relational Aesthetics der 90er und 00er Jahren, da diese immer noch darauf abzielt, ein Kunstwerk zu schaffen. Neue Bewegungen und Trends äußern sich nicht in bestimmten Kunstgegenständen. Deren Ziel ist es, Praktiken zu schaffen. Der Betrachter wird hier zum Teilnehmer und Künstler einer solchen Handlung, statt eine Rolle zu erhalten, die durch den Künstler zugewiesen wird.
In einer Situation, in der nicht nur Arbeit, sondern auch Freizeit reguliert wird und der Logik des Kapitals untergeordnet, ist die Schaffung neuer Alltagshandlungen, die dieser Logik entgehen, kein ästhetischer Exzess oder eine tiefe persönliche Erfahrung, sondern eine politische Aktion. 
In diesem Sinne verändert sich gerade aufgrund der Überempfindlichkeit auch die Figur des Künstlers, sie wird zur Figur des Kopfsteinwerfer, die Gilles Caron porträtiert hat. Dies ist kein Manager oder Great Creator mehr, sondern ein Bild, eine Funktion, die jeder aus- und anprobieren darf.
Antonina Stebur
Antonina Stebur is eine Kuratorin und Forscherin. Studium der Bild- und Kulturwissenschaften an der European Humanities University (Vilnius, Litauen) und an der School of Engaged Art der Kunstgruppe "Chto Delat?" (Sankt Petersburg, Russland). Sie ist Mitglied der Künstlergruppe #damaudobnayavbytu ("Frau, die bequem im Alltag ist"), die die feministische Agenda im russischen und weisrussischen Kontext untersucht. Sie war Kuratorin einer Reihe von Ausstellungen in Belarus, Russland, Polen, Frankreich und China. Ihre Forschungsgebiete und kuratorischen Interessen sind: Gemeinschaft, Um-Zusammenstellung alltäglicher Praktiken, feministische Kritik, neue Sensibilität, Basisinitiativen.
Der Text wurde im Magazin "Innnerhalb der Trigger-Feld" der School of Engaged Art im Februar 2019 auf Russisch publiziert. Auf Deutsch erscheint der Text zum ersten Mal. Redakteur: Willi Reinecke, Übersetzerin: Ira Konyukhova