There Is Sex After Soviet Union! (German)
Ira Konyukhova
1st October 2019
Dieser Text entstand in Zusammenhang mit der Ausstellung “Die Grenze” des Goethe-Instituts Moskau, die von Thibaut de Ruyter und Inke Arns kuratiert wurde. In diesem Aufsatz bespreche ich die Arbeiten von ukrainisch-schweizerischen Künstlerin Alina Kopytsa (geb. 1983 in Poliske, Kyiv Region, Ukraine), deren Arbeit “Hochzeitskleid” in der Ausstellung zu sehen ist.
Es gibt diese berühmte Phrase, die bevor sie aus ihrem Kontext gerissen wurde - wie viele solcher Sequenzen - etwas anderes bedeutete: Es gibt kein Sex in der SowjetunionNatürlich war das nicht genau so gemeint, eigentlich war dieser Satz die Antwort auf die Frage, ob in der Sowjetunion auch so viele sexualisierte Körper von Frauen in der Werbung benutzt werden. Es war aber nicht nur für Amerikaner, die die Sendung angeschaut haben, eine bedeutungsträchtige Antwort, sondern auch für viele Sowjetische Bürger, die die Sturheit des politischen Systems mit der Abwesenheit von Spontaneität, Exzess und Experimentierfreude in ihrem eigenen Sexleben verbanden. In den sowjetischen Medien wurde so getan, als ob eben dieses nicht existieren würde. Fast 30 Jahre nach dem Zerfall des Systems, hat Sex sicherlich seinen Weg in die Werbung, Publikationen und öffentliche Diskussionen gefunden. Hat dies auch den Weg zur Freiheit und Gleichberechtigung zwischen Geschlechtern und sexuellen Orientierungen pflastern können?
Es wird oft vermutet und durch verschiedene Studien belegt, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion die Gender-Rollen auf dem ganzen postsowjetischen Raum sich hin zum Traditionellen entwickelt haben. Waren zumindest in der sowjetischen Ideologie die Gleichberechtigung eines Mannes und einer Frau großgeschrieben, sind viele institutionelle und auch wirtschaftliche Elemente zur Unterstützung der Familie und Erziehung der Kinder in der neuen kapitalistischen Ordnung zusammengebrochen. Viele Studien zeugen davon, dass sowohl Männer als Frauen ihre Rollen innerhalb Familien und auf dem Markt nun traditionell aufgeteilt sehen. Wie aber Tanja Rands Lyon in ihrer Recherche über die tatsächliche Aufteilung in den russischen Familien offen legt, kamen solche Vorstellungen oft mit nicht-kohärenten Familien-Modellen zurecht. In fast allen Familien, die sie befragt und analysiert hat, haben die Frauen gearbeitet und ihre Arbeit nicht nur als Verdienst verstanden, sondern als notwendigen Teil ihrer Individualität, genau so, wie es die Männer taten. Fast alle Männer, die patriarchale Ansichten vertraten, haben ihre Macht als Familienoberhaupt selbstverständlich mit ihrer Frau geteilt und sich oft in vielen Fragen zurückgenommen, bei denen sie sich nicht kompetent gefühlt haben. Das Arbeitsleben der Frau durch ein Verbot zu beeinflussen war für die meisten befragten Männer undenkbar. So stellt Tanja Rands Lyon am Ende ihrer Recherche fest, dass die patriarchalen Strukturen - die auf der Nuklearfamilie aufbauen und durchaus in Russland und im weiten post-sowjetischen Raum präsent sind - nicht den westlichen Strukturen komplett gleichzusetzen sind. Sie nennt es „soft patriarchy“, also weiches Patriarchat, was ziemlich genau den Zustand zwischen den Geschlechtern in den jungen Staaten beschreibt.
Stichwort: Nuklearfamilie. Auch in Europa wird ein solches Konstrukt als tragendes Element in der Gesellschaft verstanden. Ein Mann und eine Frau, ggf. mit Kindern, beide eindeutig heterosexuell, als Paar monogam und treu. Als Alina Kopytsa, die aus der Ukraine kommt, ihren zukünftigen Mann trifft, ist weder sie noch er von der Idee eines solchen Fabrikats überzeugt. Beide wollen offene Beziehungen, beide leben diese auch, wollen aber auch Nähe und Zugehörigkeit, eventuell eine Familie, aber eben eine andere, die nach anderen Prinzipien funktioniert. Eine, die vielleicht die einzig sichtbaren Ergebnisse der 68er Proteste in sich verkörpern wird. Ihr Partner lebt in der Schweiz und stellt bald fest, dass wenn beide zusammen in diesem Land leben (und experimentieren) wollen, den Schweizer Behörden Beweise darüber erbracht werden müssen, dass ihr Zusammenleben der Nuklearfamilie-/den Echte-Liebe-Standards entspricht. Die Emails, die sie austauschen, die oft sexuell geladen sind und intime Beschreibungen beinhalten, müssen vorgelegt, dokumentiert und archiviert werden. Später macht Alina Kopytsa daraus eine Arbeit, indem sie ein Hochzeitskleid aus diesen unzähligen Schriften zusammenschneidert. Ich frage mich: Haben sie damals ein Schauspiel aufgeführt, das System gehackt, indem sie ihre Liebe und Leidenschaft zueinander in übertriebener Weise gezeigt haben? Ich weiß es nicht. Ein bürokratisches System ist eben ein solches, das automatisch nach Vorgaben handelt und bei genügend passenden Stichwörtern die eindeutige Entscheidung trifft.
Ich frage mich auch: Hat ein solcher vom System aufgezwungener Exhibitionismus keine Folgen für das Selbstverständnis sexueller und intimer Wesen? Welche Auswirkung hat diese Überschreitung nicht nur einer staatlichen Grenze (also die Penetration des Staates durch das Individuum), sondern auch des Privaten (also die Penetration des Persönlichen eines Individuums durch den Staat) auf die Identität einer Frau (eines Mannes/eines Menschen), auf ihr Handeln, auf ihr sexuelles Leben und dementsprechend auf ihre Kunst?
Als Feministin und Verfechterin der offenen Beziehung hat Alina auch in der Ukraine einige Textil-Arbeiten gemacht, die die promiskuitive, negierte, verheimlichte, übersehene weibliche Sexualität thematisieren. In der Arbeit "Diaries About Berlin” wandelt eine Frau von einer sexuellen Erfahrung zur anderen, die jedes Mal aufregender, ungewöhnlicher erscheint als die vorhergehende. Sie kennt nicht immer die Namen ihrer Liebhaber, sie wechselt sie mehrmals am Tag, sie hat Sex auch gerne mit Frauen, lässt sich auf BDSM und Sex auf öffentlichen Plätzen ein. Sie ist erotomanisch, offen, hat Freude an eigener Objektivierung. Oder vielleicht träumt sie nur davon?
Stichwort: Objektivierung. Ich erinnere mich an Arbeiten von Hannah Wilke, an ihre berühmte „So Help Me Hannah“ Fotoserie, in der sie nackt, in sexualisierten Positionen, oft mit gespreizten Beinen abgebildet ist. Wenn sie über diese zur damaligen Zeit recht provokative Serie sprach, äußerte sie, dass sie die „Objektität eines Körpers respektieren möchte“. Ich dachte fragend: Objektität respektieren? Jemand, der in feministischen Fragen bewandert ist, weiß, dass das Wort Objekt gegenüber einer Frau ausschließlich negativ verwendet wird. Objekt ist etwas nicht lebendiges, das zwar eigene Materialität hat, aber keinen eigenen Willen oder die Möglichkeit, den Willen zu äußern. Objekt ist in einer kapitalistischen Welt mit Wert verbunden, sei es mit symbolischem oder finanziellem. Es kann gekauft und besessen werden. Hannah Wilke dreht es aber um: Objekt bedeutet für sie „Something that is or is capable of being seen, touched, or otherwise sensed“. Für sie ist es die pure Existenz, die Möglichkeit, wahrgenommen zu werden, aber nicht auf eine aktive, sondern auf eine passive Art und Weise. Passivität ist ja nicht per se etwas Negatives, erinnere ich mich. Es ist es nur dann, wenn wir uns in einem patriarchalen Paradigma befinden.
Schon in Zürich hat Alina einige Objekte gemacht, die sie unter dem Titel „Plug It“ ausstellt und für Performances verwendet. Die Augen der zufällig aus dem Publikum ausgewählten TeilnehmerInnen der Performance müssen verbunden sein und die PerformerInnen müssen, soweit es geht, ausgezogen sein. Sie können einander nicht sehen, also visuell und intellektuell einander wahrnehmen, sie können nur einander riechen, spüren oder ertasten - sie werden also zu Objekten. Die sexuell-anmutenden Kunst-Objekte von Alina werden an die Körper angebunden und sind so Teil eines Spiels, welches Geschlechtlichkeit und die Begriffe der Passivität und Aktivität außer Kraft setzt. Jeder ist da, ein Objekt des Anderen zu sein. Und wenn alle es sind, dann sind wir endlich alle nur Menschen.