Interview mit Samvel Saghatelian
11th March 2019
Wir trafen uns mit dem armenischen Künstler Samvel Saghatelian, der nach 12 Jahren in den USA 2015 zurück in seine Heimatstadt Jerewan zurückkehrte. Seine Zeichnungen, Fotos und Installationen, die eine Herausforderung an Sexismus und Patriarchat darstellen, sind provozierend und oft schockierend. FeministInnen und KünstlerInnen Armeniens sind in Bezug auf seine Arbeit oftmals gespalten: von den einen wird er als unzureichend aktivistisch betrachtet, von anderen wird er gesehen als einer der ersten Künstler des postsowjetischen Armeniens, der wertfrei über die Sexualität thematisiert. Wir trafen uns in seinem Studio, um über seine Kindheit, die Zeit in Amerika und jahrzehntelange patriarchale Strukturen zu sprechen.
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Samvel, Sie haben 12 Jahre in Amerika gelebt. Wie hat diese Erfahrung Sie und Ihre Kunst beeinflusst?
Samvel Saghatelian
Ich habe in Los Angeles gelebt. Wir hatten dort eine Galerie. Aber ich wurde in Jerewan geboren und lebte in der Sowjetunion. Die Hälfte meines Lebens verbrachte ich in sowjetischen Zeiten, die andere Hälfte ist postsowjetisch. Die Auflösung der Sowjetunion, die Zeit der Karabach-Bewegung, die Unabhängigkeitsbewegung, fiel mit dem Beginn meiner kreativen Biografie zusammen.
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Wie alt waren Sie zu dieser Zeit?
Samvel Saghatelian
Es war das 1988/89, das heißt, ich war etwa 30 Jahre alt. Ich habe schon immer gemalt, habe aber Fakultät für Architektur abgeschlossen. Ich erinnere mich sehr gut, wie alles begann. Mom nahm mich mit in ein öffentliches Bad und es gab dort viele nackte weibliche Figuren, was für mich wirklich inspirierend war.
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Laut Freud erwacht die bewusste Sexualität sowohl bei Frauen als auch bei Männern im Alter von etwa fünf oder sechs Jahren.
Samvel Saghatelian
Ja, für mich ist das offensichtlich. Danach kam ich nach Hause und fing an, an den Wänden in der Wohnung die Frauen zu zeichnen.
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Waren in Ihrer Familie andere Künstler?
Samvel Saghatelian
Nein, eine Künstlerfamilie war es nicht, aber die Familie war kreativ. Mein Vater sang wunderschön, er war eine berühmte Person in der Stadt. Und mein Großvater sang bei Komitas in dem Chor. Oft kamen sehr berühmte Leute zu unserer Familie zu Besuch. In unserer Familie hörte man zum Beispiel nie ein Rabis an. Rabis ist ein Musikgenre, dessen Name von der Abkürzung von zwei Wörtern stammt: “RAbochee ISkusstvo” (Arbeiter-Kunst). Dies ist eine Synthese der von billiger und kitschiger Musik, aber es ist sehr interessant, weil es urbane Kultur repräsentiert. Es ist gleichzeitig mit der männlichen Macho-Kult verbunden. Man kann sagen, dass die Rabis unser Chanson ist.
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Ist das ein Jerewan-Phänomen?
Samvel Saghatelian
Ja, das kann man sagen. Es war eine Art Subkultur. Und ich war darin sehr interessiert, weil ich mich sowohl für die “niedrige Kultur” als auch für die sogenannte "Hochkultur" interessierte.
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Das waren also proletarische Lieder?
Samvel Saghatelian
Ich habe nicht von proletarischer, sondern von Straßenkultur gesprochen.
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Und sie thematisieren Erotik?
Samvel Saghatelian
Es gibt dort keine Erotik. Ich würde unsere armenische Gesellschaft als eine von Männern dominierte Gesellschaft betrachten, aber darunter liegt etwas wie ein Fluss, etwas sehr Empfindliches, sehr Subtiles. Ich würde sagen, wenn wir uns in weibliche und männliche Manifestationen aufteilen, dann ist weibliche Manifestation die Zärtlichkeit, die Feinheit. Dies war für Männer eine Gefahr: den männlich dominanten Zustand zu verlieren.
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Wann war dies eine Gefahr?
Samvel Saghatelian
Dies ist immer noch in der armenischen Kultur. Männer dürfen keine Raffinesse zeigen. Aber ich habe es in Rabis Liedern gefunden. Wenn Sie auf die Texte achten, ist das unterwürfig. Es ist eine billige Lyrik, die keinen künstlerischen Wert besitzt; aber plötzlich sieht man dort diese Zärtlichkeit, unerreichbare Liebe und Verletzlichkeit.
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Das ist sehr interessant. Als ich gestern alleine in einem Taxi durch Jerewan fuhr, gab es Rapmusik auf Russisch. Und die Sänger rezitieren Folgendes: Welche schönen Augen hat das Mädchen, wie gerne er die ganze Nacht und den ganzen Morgen mit ihm verbringen möchte, warum es so unzugänglich ist usw. Also es ging um das Leiden eines Mannes. Im allgemeinen ist Rap eine ziemlich aggressive Musik für harte Jungs, die scheinbar keine Gefühle haben. Aber die russische und vielleicht auch postsowjetische Manifestation dieses Genres, die momentan eine Renaissance erlebt, drückt sich gerade in der brutalen Zärtlichkeit und Verletzlichkeit aus.
Samvel Saghatelian
Ja, und das war für mich sehr interessant: Einerseits manifestierte sich ein männlicher, dominierender Zustand in der Gesellschaft. Eine Frau sollte sanft sein. Tatsächlich beruhte unsere armenische Gesellschaft auf der Überlebensmentalität, die für viele Jahrzehnte sehr wichtig war, weil wir vor sechs Jahrhunderten unsere Unabhängigkeit verloren hatten. Und alles war darauf ausgerichtet, die Kultur zu erhalten, die Familie - um jeden Preis. Und in dieser Hinsicht stellten Sex und Sexualität, insbesondere weibliche Sexualität (nicht so viel männliche Sexualität) in irgendeiner Weise eine Gefahr dar.
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Ja, weibliche Sexualität wurde vom Staat viel stärker reguliert als männliche.
Samvel Saghatelian
Und auch heute ist es so! Ich führe dieses Gespräch zur sexuellen Revolution. Wir brauchen nur eine Revolution - die sexuelle. Insbesondere für die armenische Gesellschaft führen alle Wege politischer Veränderungen zum Sex. Ich versuche den Menschen zu erklären, dass dies nicht nur für den Sex selbst gilt. Dies ist ein systemisches Problem. Weil unser politisches System immer noch ein vertikales Pyramiden-System ist, und dies ist ein von Männern dominiertes System. Meine Idee ist es, dieses System zu zerstören oder sogar: das weibliche Prinzip der Kontrolle einzuführen, das auf Teilen basiert. Die männliche Dominanz kontrolliert also. Die weibliche teilt. Wenn du diese Dinge kombinierst, wird das die sexuelle Revolution sein.
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Die sexuelle Revolution fand in Europa 1968 statt, in der Sowjetunion und aber auch in Europa wurden die Voraussetzungen dafür bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts geschaffen. Zu Stalins Zeiten kehrten jedoch alle patriarchalen Strukturen an ihren Platz zurück. Der kommunistische Staat hat in den zwanziger Jahren die sexuelle Emanzipation gefördert, da man glaubte, dass nur befreite Menschen echten Kommunismus und Gleichheit aufbauen könnten. Viele sowjetische Kulturschaffende gehörten in dieser Zeit zum Beispiel zu schwulen und lesbischen Kreisen in Paris. Unglücklicherweise wurde diese Kultur mit der Untergang der Avantgarde aufgegeben, etwa 1933. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es einen zweiten Versuch der sexuellen Emanzipation. Vor allem im Zusammenhang mit dem Kapitalismus gab es eine sehr starke Änderung der Gender-Begriffe. So ging die sexuelle Freiheit mit der Objektivierung und dem Verkauf des weiblichen Körpers einher. Gab es auch in Armenien eine ähnliche Entwicklung?
Samvel Saghatelian
Ja, es gab starke Änderung der Begriffe in Armenien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Daher hat der Zusammenbruch der Sowjetunion das armenische Überlebenssystem verändert. Wie ich schon gesagt habe, hatten wir keinen Staat. Der Staat von Dashnaktsutyun, der nach dem Völkermord entstanden war, hat etwa zwei Jahre überlebt. Es entstand die erste armenische Republik. Davor hatten wir etwa fünf Jahrhunderte lang keinen eigenen Staat gehabt: Armenien stand erstmal unter dem Joch der Perser, dann der Türken (Osmanisches Reich), dann kam das russische Reich. Wir hatten keine Unabhängigkeit. Und wir haben eine Mentalität, die meiner Meinung nach als Überlebensmentalität bezeichnet werden kann. Und die Familie war am wichtigsten. Die Familie ruhte auf einem Mann von außen, und von innen - auf einer Frau, Mutter. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen neue Ideen und es stellte sich heraus, dass Frauen unter den neuen wirtschaftlichen Bedingungen besser überleben können, leichter eine Arbeit finden können. Viele Männer verloren ihren Job, vor allem einfache Arbeiter. Die Rolle der Frau wurde zu dieser Zeit bedeutender und es fand eine Art Emanzipation statt.
Im Allgemeinen scheint es mir jetzt überall, dass unsere Welt immer noch eine patriarchale Pyramide ist. Wenn wir zum Beispiel USA betrachten, ist es ein demokratisches System. Aber es basiert immer noch auf der männlichen Herrschaft, es ist ein vertikales System, selbst wenn es eine Frau ist, die sich oben an der Spitze des Systems befindet. Dasselbe gilt für Armenien: selbst wenn Sie eine Frau mit einer Struktur beauftragen, basiert die Struktur immer noch auf dem vertikalen Prinzip der Macht.
TransitoryWhite
Sie haben sich in Ihren Arbeiten auch mehrmals mit der Verknüpfung von Architektur und Sexualität auseinandergesetzt. Die berühmte Serie “Ghost Phallus” ist die bekannteste, aber sie haben auch eigenartige monströse Architekturmodelle gezeichnet. Können sie uns darüber etwas mehr erzählen?
Samvel Saghatelian
Wir hatten einmal eine Ausstellung im Byurakan-Observatorium. Die Ausstellung wurde den außerirdischen Lebensformen gewidmet. Ich fand heraus, dass 1970 eine große internationale Konferenz zu diesem Thema in Byuroban stattfand. Als ich dort ankam, hatte ich das Gefühl, dass im Byurakan-Observatorium schon längst Außerirdische gelebt haben. Das sind Leute aus der Sowjetunion. Dort hat sich nichts geändert. Typische sowjetische Wissenschaftler und Arbeiter. Es war sehr interessant.
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Kann man sagen, dass sie in einer Zeit wie eingefroren sind?
Samvel Saghatelian
Ja. Deswegen ging es im ersten Teil der Arbeit um Kommunikation. Ein Mensch als Träger von Ideen und Kommunikation. Und der andere Teil befasste sich mit Löchern. Loch als einzige Möglichkeit der universellen Kommunikation. Ich nahm den menschlichen Körper, der eine Struktur ist, die aufgrund von neun Löchern funktioniert. Und ich habe eine Fotoserie zu diesem Thema gemacht. Dazu habe ich ein Objekt gemacht. Wir haben einen vorchristlichen Ritualplatz namens Karaunch. Es wird davon ausgegangen, dass es dort ein Observatorium gab. Es sind Steine um ein Loch herum platziert. Hier, durch dieses Loch, wird angenommen, dass die Leute die Sterne angesehen haben. Ich habe diesen Entwurf in einer modernen Form gemacht. Für mich war es wie ein menschliches Konzept. Der Mensch ist ein Loch. Der Mensch ist die Idee der Kommunikation. Und daher sind meine Ideen für neue Arten von Observatorien entstanden. Architekturprojekte einer möglichen Realitätstransformation.
TransitoryWhite
In einigen Architekturskizzen gibt es eine Mischung aus männlichen und weiblichen Körperformen. Sollen aus den Löchern die Raumschiffe fliegen? Sind das also Kosmodrome?
Samvel Saghatelian
Ja, genau. Wissen Sie, immer wenn ich mit einer Ausstellung nach Jerewan kam, wurde meine Arbeit als provokativ empfunden. Sie wollten mich sogar aus Armenien ausweisen, und in den Artikeln wurde geschrieben, dass ich ein amerikanischer Agent sei, der unsere armenische Werte untergrabe. 2012 habe ich eine Ausstellung mit dem Namen Transromance gemacht. Diese Serie entstand, nachdem ich die Dualität der Geschlechter hinterfragt habe. Diese Ausstellung hat ziemlich viel Lärm gemacht, ich arrangierte sie in einer Wohnung meiner Bekannten, weil sich niemand bereit erklärte, die Arbeiten auszustellen. Es wurde immer wieder gesagt, dass sie pornografisch seien.
TransitoryWhite
Samvel, wir danken Ihnen für ein spannendes Gespräch und freuen uns auf die neue Arbeiten von Ihnen!
Redakteur*innen: Lene Vollhardt, Willi Reinecke