Faig Ahmed
21st March 2019
Faig Ahmed ist einer der berühmtesten aserbaidschanischen Künstler. Mit seinen Arbeiten schafft er eine oft nicht-eindeutige Verbindung zwischen dem Zeitgemäßen und dem Vertrauten herzustellen. Wie man lebt und arbeitet im “Kaukasischen Paris”, welche Muster sein Leben und seine Kunst bestimmen und seinen Bezug zur westeuropäische Moderne haben wir in einem Gespräch im Atelier erfahren.

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Faig, guten Tag. Im Raum, wo wir uns treffen, sind nicht nur Ihre Arbeiten zu sehen, sondern auch die Teppiche anderer Kulturen. Waren Sie vor kurzem verreist?
Faig Ahmed
Ich war vor kurzem in Peru. Es ist ein erstaunliches Land, wahrscheinlich aufgrund des Amazonasgebiets und der Tatsache, dass es immer noch bestimmte schamanistische Kulturen gibt. Darüber hinaus ist die Kultur nicht nur von Riten bestimmt, sondern sie haben auch bildende Kunst. Und es gab die Muster – also war es für mich interessant.
Grundsätzlich werden in ganz Peru solche Muster gemacht. Dies ist das typische Design der Dinge, die dort produziert werden, an verschiedenen Orten der bergigen und küstennahen Teile Perus. Sie haben einen klaren Stil. Es gibt jedoch ein logisches Prinzip für die Musterbildung. Es ist immer auf einer Linie und auf einer Raute aufgebaut, und eine Raute ist auf einem gleichseitigen Kreuz. Das gleiche Prinzip gilt auch für Teppich. Diese Logik wird normalerweise so beschrieben, dass die Menschen dem Diktat der Stoffe gefolgt sind.
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Waren Sie in Peru für Arbeit, für ein neues Projekt oder für sich selbst?
Faig Ahmed
Ich bin für mich selbst dort hingegangen, weil ich von diesen Kulturen gelesen habe. In Peru interessierte ich mich nicht für diese berühmten Inka-Kulturen, die ich natürlich auch besuchte. Dies ist jetzt eher eine Show für Touristen. Es ist nichts mehr da. Alle spielen nur eine Rolle, als ob sie noch einigen Regeln befolgen.
Weiter in dem Land lebt ein kleiner Stamm, sie sind ziemlich groß (der Stamm), sie sind im ganzen Amazonasgebiet verteilt. Ich habe ein bisschen nachgeforscht. Ich verstand, dass je weiter ich ging, desto glücklicher waren sie. Je mehr Zivilisation zu ihnen kam, und es zu Ihnen gesagt wurde, „Sie sind nicht gebildet, Sie sind arm“, wurden sie wirklich arm und ungebildet. Wenn Sie tief in den Ort gehen, wo sie leben, gibt es dort die klügsten Menschen. Ich kam zu ihnen, ich lernte, von ihnen zu leben. Sie fragten mich: „Was ist passiert?“ Ich sagte: „Ich suche mich“. Sie sagen: „Was bedeutet es, sich selbst zu suchen? Was hast du verloren? Was willst du finden? Du bist jetzt und hier.“ Ich kam mit eigenen großen Konzepten dorthin. Aber sie sind einfach in den Fluss gegangen, und alles ist verschwunden, denn das Leben bleibt, der Körper bleibt, und wir alle spüren es. Bald wird aber die Technologie uns vielleicht blockieren.
Ich würde sagen, genauso wie hier. Man kann sehen, dass die Menschen ihrer Kultur müde sind, aber sie müssen es tun, weil sie dafür bezahlt werden.
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Sehen Sie Parallelen zwischen einer ähnlichen Zierkultur in Peru und einer Zierkultur bei Teppichen, die Sie benutzt haben?

Faig Ahmed
Ja. Ich wusste, dass das Ornament mit Schamanismus verbunden ist. Solange es eine direkte Verbindung gibt, wollte ich verstehen, woher man das Muster bekam. Ich finde ja die Stilisierung sehr interessant. Wenn Sie sich den ältesten Teppich ansehen, der sich übrigens in St. Petersburg befindet, sehen Sie darauf gleichzeitig Symbole und realistische Objekte. Der Mensch verstand, dass es möglich ist, sowohl realistische als auch symbolische Bilder zu produzieren. Ich denke, das ist das Gleiche. Ich habe es auch gesehen, als ich in dem Rausch-Zustand war. Ich habe verstanden, warum sie es tun.
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Zurück zu Ihren Arbeiten, wie würden Sie ihren Weg selbst beschreiben?
Faig Ahmed
Nach dem Abschluss der Akademie begann ich zu experimentieren. Es war eine Zeit, als wir mehrmals nach Deutschland und Venedig reisten. Ich habe gesehen, wie zeitgenössische Kunst aussieht. Mir wurde klar, dass ich mich aktualisieren muss. Jede Arbeit, jede Ausdrucksform - sie schien schon lange gemacht zu sein. Oft habe ich nicht nur alleine, sondern mit einer Gruppe von Künstlern experimentiert.
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Wart Ihr eine organisierte Künstlergruppe?
Faig Ahmed
Manchmal ja, manchmal dann wieder jeder für sich – es war eher informell. Wenn es notwendig war, kamen wir zusammen. Zum Beispiel für kommerzielle Projekte, schließlich waren wir alle Künstler und mussten irgendwie verdienen. Wir hatten alle zusammen Spaß. Gleichzeitig organisierten wir für uns die Ausstellungen. Nach und nach ging aber jeder seinen eigenen Weg.
Wir haben darüber gesprochen, „was wir als Grundlage nehmen sollten“ - was ist die Grundlage der Kunst hier in Aserbaidschan. Sie (westliche Künstler) kamen zu etwas Eigenem. Nehmen wir an, die Kunstgeschichte sieht in einer sehr vereinfachten Form für sie so aus: Zuerst gab es ein Bild, dann löschte das „Schwarzes Quadrat“ das Bild, dann fügte Duchamp ein Objekt hinzu, er fügte der Kunst alle Objekte der Welt hinzu. Wenn wir über den Orient sprechen (ich spreche nicht über den Ost-Islam oder Zentralasien, ich sehe den Osten und Orient als eine Art Denken an), dann zeichnet es sich durch die militante Feminisierung aus.
Zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte – nicht, dass es bewusst war – hat sich die Gesellschaft selbst so geformt, dass eine Frau im Zentrum stand. Sie ist Kulturträgerin, daher werden Teppiche meist von Frauen gewebt. Übrigens nicht nur hier. Selbst wenn ein Mann ein Schamane war, war es die Frau, die seine Prophezeiungen zeichnete, weil sie das eindeutig vermitteln konnte.
Eine weit entwickelte frühere Inka-Kultur ist vollständig verschwunden. Heute ist es eine andere Kultur und heute machen auch Männer Stoffe. Sie haben Teile der Kultur bewahrt, aber sie haben keine Angst, sie zu entwickeln. Sie sagen: „Neu? Großartig. Lass uns neue Dinge tun.“ Ich habe ihnen meine Werke gezeigt. Sie sagten: „Soetwas müssen wir auch machen“. Sie ändern gerne ihre Kultur, genau wie hier, denn die Quelle der Kultur ist bereits verloren. Die Bedeutung des Symbols ist verschwunden. Mit ihm kannst du schon alles machen. Es wurde zu einem solchen Objekt.
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Ich finde den Ausdruck “militante Feminisierung” sehr interessant. Würden Sie etwas näher darauf eingehen?
Faig Ahmed
Es war ein Teil, als ich danach suchte, worauf unsere Kultur beruhte. Ich denke nicht, dass es notwendig ist, die Tradition der westlichen Kunst fortzusetzen, die zu einer Abstraktion geworden ist. Ich verstand, dass all dies in der persisch-asiatischen Kultur wurzelt, was sich bis zu einem gewissen Ausmaß auf die indische und die zentralasiatische Kultur zurück führen lässt. Ich verstand auch, dass diese Dinge wie z.B. Miniaturen, die mehr oder weniger realistisch waren, auch von einer Idee oder einem Konzept abhingen. Ein Teppich ist ein rein visuell starkes Objekt, das alle visuellen Ausdrucksformen in diesem Territorium enthält.
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Was inkludieren Sie in diesen Territorium?
Faig Ahmed
Angefangen von Indien bis hin zum Nahen Osten. Oder nehmen wir zum Beispiel den tibetischen Teil Chinas, in dem die Uiguren leben, Urumqi, den zentralen Teil des heutigen Russlands, die zentralasiatischen Länder und den Nahen Osten. Hier wurden die Bilder von den Teppichen in die Architektur oder auf Kleidung übertragen, und in gleicher Weise zurück.
In Tibet zum Beispiel gibt es das gleiche Prinzip für das Erstellen eines Teppichmusters. Ich sehe diese Teppiche nicht als aserbaidschanische Teppiche an – es gibt auch keinen iranischen oder einen türkischen Teppich.
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Was meinen Sie damit?
Faig Ahmed
Es gibt keinen aserbaidschanischen Teppich, aber es gibt ein "qubanischen Teppich". Dies beschreibt das Design, das in diesen Gebieten am häufigsten verwendet wird. Oder es gibt den sogenannten “aserbaidschanischen Teppich" im Iran. Oder es gibt Kurden, die in diesem Gebiet leben und auch ähnlichen Stil pflegen.
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Also verstehen Sie den Teppich als einerseits ein Objekt der lokalen und gleichzeitig transasiatischen Kultur?
Faig Ahmed
Tatsache ist, dass man einen Teppich auf verschiedene Dinge beziehen kann. Wenn ich beispielsweise vom Sufismus spreche, kann ich die Sprache des Teppichs sprechen. Gleichzeitig wird es mit noch älteren Kulturen in Verbindung gebracht, vor Islam und Christentum. Der älteste Teppich ist 2500 Jahre alt und wurde im Altai gefunden. Bis vor kurzem wurde der Teppich nur von Lehrerin zu Schülerin gelehrt: Eine Frau hat ihre Tochter unterrichtet. Das blieb bestehen. Das ist ein Programm, das seit 2500 Jahren von Mensch zu Mensch weitergegeben wird.

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Hat die Sowjetunion diese Praxis verändert?
Faig Ahmed
B: Während der sowjetischen Zeit, hier und wahrscheinlich im gesamten Kaukasus, hat man zu Hause produziert, aber das war mehr für sich. Es gab natürlich große Werkstätten, Fabriken, in denen Teppiche hergestellt wurden. Aber die Fabriken begannen etwa im 16. Jahrhundert, das heißt, als der Iran und dieser Teil unter dem Imperium der Safawiden waren. Da das Imperium Konflikte mit dem Osmanischen Reich hatte, unterhielt man Kontakte nach Europa. Es gab gute Beziehungen zu Venedig und weiteren Städten und dadurch große Fabriken, die die Städte belieferten.
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Ich finde ja ihre Arbeiten großartig. Aber ich möchte Ihnen auch eine kritische Frage stellen. Sie haben es für sich selbst herausgefunden, dass Sie zu dem zurückkehren müssen, was in Ihrer Heimatregion, in Ihrer Kultur besonders ist. Sehen Sie darin nicht ein Element der Selbst-Kolonisation?
Ich erkläre es an einem Beispiel. Auf der documenta 14 auf einer Konferenz, die von Adam Szymczyk geleitet war, gab es eine eingeladene Künstlerin aus Bosnien. Sie erzählte über ihre Arbeit, die sie vor einiger Zeit dort gemacht hat. Im Norden von Bosnien gibt es in drei Dörfern eine alte Tradition, Braut auf bestimmte Weise zu schminken. Mit dem komplett bemalten Gesicht fährt sie dann durch das Dorf. Die Künstlerin selbst gehörte nicht zu dieser Tradition, und war auch nicht verheiratet, aber sie hat beschlossen, diese Zeremonie alleine zu machen. Sie ließ sich das Gesicht bemalen, und spazierte durch das Dorf.
Nun, Bosnien ist Teil des ehemaligen Jugoslawiens. Zu den Sowjetzeiten war es ein vereinigtes Land, man bemühte sich, die unterschiedlichen Nationalitäten, Sprachen und sogar Religionen zu vereinen und Internationalismus zu pflegen, so wie man es heute auch in Deutschland, das viele Nationalitäten in sich vereint, tut. So fragte ich mich, warum solche entwickelten industriellen Länder dann zur “Entdeckung der Tradition und nationaler Identifikation” neigen, was ja genau der Idee des Multikulturalismus und Fortentwicklung einer Gesellschaft widerspricht.
Faig Ahmed
Sagen wir so etwas. Vielleicht hat Europa eine Verbindung zu Ihrer verloren? Vielleicht haben sie es verloren und suchen jetzt woanders? Aber sie suchen sie in der Politik, in sozialen Verbindungen. Wie können wir heute ein Leben aufbauen, während vielleicht jene Länder – Bosnien oder Indien –, die sich oft den Formen der Vergangenheit zuwenden, darauf basieren? Das heißt, wir sagen, dass es eine Art Basis gibt, und nur darauf ist es möglich zu wachsen. Während das europäische Bewusstsein jede Basis ablehnt und sagt, dass es jetzt möglich ist, diese Basis von Grund auf zu bauen. Ich denke, dass der Modernismus nicht als ewige Fort-Bewegung betrachtet werden kann, dass wir nicht mehr einholen können. Vielleicht ist dies der Weg zur Seite: nach links und nach rechts – und einige andere Formen liegen davor.
Was ist denn „Fortschritt“? Ich verstehe nicht, was Fortschritt ist. Ich meine es ernst.

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Ich meine, es gab eine gute Idee über die Entwicklung der Moderne als eine Entwicklung in verschiedenen Richtungen der Welt, die nicht von einem Punkt, von Punkt A nach Punkt B, kommt.
Faig Ahmed
Wir alle, Künstler, meine ich, sind auf das offene Feld gegangen, wo alles absolut offen ist. Nichts hält uns zurück, wir wissen nicht wo wir anfangen sollen, wo wir enden sollen. Es gibt einen Zustand absoluter Freiheit. Wenn wir vorher die Kunstakademie durchgingen, hatten wir klare Einschränkungen im Material und in den Ideen auch, da wie wir wissen “The medium is the message”. Der Künstler, der dies versteht, wählt für sich entweder ein Ziel oder eine Grundlage. Es geht nicht mehr um den Fortschritt, über den wir sprechen, sondern um die Entwicklung verschiedener Muster.
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Faig, wir bedanken uns sehr für das Gespräch.
Redakteur: Willi Reinecke