Belarus streikt - Brief an die Arbeiter*innen
Anatoli Ulyanov
18th August 2020
Während die deutschen liberale Medien und Staatsfernsehprogrammen den Sieg über den Diktator Lukaschenko feiern, schweigen die deutschen Linken über den Klassenkampf, der in der ehemaligen sowjetischen Republik stattfindet. Wir publizieren deswegen auf Deutsch die Überlegungen den Sozialisten Anatoly Ulianov, der die Ereignisse in Belarus unter die Lupe nimmt und über den Zauberpony-Liberalismus nachdenkt.

Diejenigen, die die Proteste in Weißrussland nicht unterstützen, weil sie keine Wiederholung des "ukrainischen Szenarios" wollen, müssen verstehen, dass nicht Lukaschenko Belarus vor einer Wiederholung des ukrainischen Szenarios retten wird, sondern ein gewachsenes demokratisches Gemeinwesen, das sich sowohl dem jetzigen Regime als auch der Opposition aus Bankieren, Händler und kolonialen Privatisierungsbeführworter widersetzt. Im Mittelpunkt einer solchen Organisation sollen die Räte der Arbeiter, Studenten und Beamten stehen. Eine solche Organisation in Friedenszeiten zu schaffen, ist viel schwieriger als jetzt, während die Geschichte offen ist und die Massen nachVeränderung dürsten.
Sowohl Russland als auch die Vereinigten Staaten sind daran interessiert, Ereignisse zu einer Form der gewaltsamen Konfrontation zu zuspitzen. Der Protest kann mit Söldnern und Provokateuren überflutet werden, um entweder die Diktatur Lukaschenkos zu verschärfen (zum Nutzen Russlands) oder dem liberalen Putsch grünes Licht zu geben (zum Nutzen der USA). Doch was ist für das Belarusische Volk von Nutzen?
Das Belarusische Volk profitiert von einer vollständigen, funktionierenden Demokratie Die Macht sollte in die Hände der 99% übergehen. Ihr habt noch keine Armee, die die Polizei mit Gewalt besiegen könnte, und so ist der beste Weg zu kämpfen ein Generalstreik. Stoppt das Blut in der Machinerie. Schlagt immer zuerst in deren Geldbörse. Vergießt kein Blut für die Anhänger einer imperialen Politik und Privatisierung.
Die Organisation der Arbeiter*Innen vor Ort wird die Grundlage einer nationalen Arbeiter*Innenorganisation sein, die schließlich die Macht übernehmen wird und sowohl Lukaschenko als auch die Tichanovskajas beseitigen wird. Denken Sie daran: Bankiers und Unternehmer sind nicht Ihre Freunde. Radio Liberty lügt.
Organisiert euch! Schafft Arbeitsausschüsse. Ergreift die Macht an den Unternehmen, wo ihr arbeitet. Vereint euch mit ähnlichen Ausschüssen im ganzen Land, und dank dieser direkten Einmischung in die Politik und Übernahme der Macht werdet ihr schnell sehen, wie ein neues Belarus entsteht. Es entsteht nicht auf leeren Leidenschaftsparolen sondern vielmehr aus der konkreten Gestaltungspraxis der Revolution.
Nieder mit Lukaschenko! Nieder mit den Tichanowskaja und mit ihresgleichen!
Alle Macht den Arbeitsausschüssen! 🌹
Wenn Lukaschenko’s Wirtschafts- und Ideologiepolitik zwar jeder in Belarus schon kennt, so ist jedoch die politische Grundlage der Fassadeartigen "Opposition" nicht allen klar. Sieh hier: "Kämpfer gegen das Regime" in Schafsfellen und deren Programm der wirtschaftlichen Veränderungen im Land.

Dies sind Marktinterventionisten. Und man darf mit denen nicht mal reden. Sonst nehmen sie Euch alles weg - das Land selbst und die Hoffnungen auf Freiheit. Darin bekennen sie sich selbst im Programm "eines Wiederbelebungspakets von Reformen" - desselben Paket, das die Ukraine in das Land der armen “nicht-qualitativen" Menschen verwandelt hat, die mit ihren Haustieren für ihre Heizungskosten bezahlen.
Fallt nicht auf ihre "demokratische" Lyrik der "Modernisierung" herein - ihr seid nicht die ersten, die damit konfrontiert werden. Vielleicht sollen wir untersuchen, was ein ähnliches Paket in den Nachbarländern sowie in Afrika und Lateinamerika bewirkt hat. Seid gefasst: Ihr steht kurz davor, auf einem Zauberpony geritten zu werden. Also löscht das sentimentale Geschrei a-la “wir sind alle hier aus einem Herzenswunsch”. Löscht sowas aus eurer Phantasie und bleibt wachsam, nehmt die Wirtschaft, die Frage des Eigentums und des Geldes in den Fokus. Die Heuschrecken versprechen dir unverhohlen, was die ganze Welt heute auf die Strassen treibt:
- teilweise oder vollständige Privatisierung großer und mittlerer Staatsunternehmen;
- alle möglichen Maßnahmen ergreifen, um ausländische Investoren, einschließlich transnationaler Unternehmen, anzuziehen;
- Senkung der Steuerlast für Unternehmen um mindestens 40%;
- Öffnung des Grundstücksmarktes;
- Deregulierung des Arbeitsmarktes ("Schwierigkeiten bei der Einstellung und Entlassung von Mitarbeitern - eine große Zahl administrativer Beschränkungen blockieren die Modernisierung des Arbeitsmarktes").
Ihr versteht doch, was das alles bedeutet: Sie wollen euch alles wegnehmen - die Unternehmen, das Land, die Ressourcen - und an ausländische Investoren verkaufen. Ihr Land wird an Russland, Europa und die Vereinigten Staaten in Stücken ausverkauft. Denn Russland, Europa und die USA sind reicher als Belarus, und sie können Euch im Gesamtpaket kaufen. Ihr werdet Gäste in eurem eigenen Land sein.
Auf welche kosten wird der Steuersatz um 40% gesenkt werden? Wie immer: auf Kosten der sozialen Sicherheit, des Bildungswesens, der Medizin, der Staatsangestellten und so weiter. Ihre Großmutter wird im Müllcontainer nach Brot suchen.
Deregulierung des Arbeitsmarktes bedeutet bye-bye Gewerkschaften - das heißt, wenn Ihr Chef euch ins Gesicht pisst, dürft ihr nur noch schlucken, denn man hat es euch schon gesagt: Wir wollen die "Komplexität der Einstellung und Entlassung" vereinfachen.
Natürlich, werdet ihr euren Chef vor einem "unabhängigen Gericht" verklagen können. Ihr habt doch die gleiche finanzielle Möglichkeiten wie er, nicht wahr? Vor allem, nach der Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Senkung des Steuersatzes um 40%...
Als Ergebnis wirst du dir deine Würde, Freiheit und Rechte in deinen eigenen "umstrukturierten" und "modernisierten" Arsch stecken dürften und verstehen, dass es einfacher ist, statt jahrelang auf Kompensation vom Gericht und Staat zu warten, Erdbeeren auf den Feldern Polens zu pflücken – so wie es auch jeder normaler Ukrainer tut. Dort wirst du auch in dein Gesicht gepisst. Aber mit europäischem Qualitätsurin, damit du deiner Oma bisschen Geld zurück für Brot und Heizkosten schicken kannst.
Freunde! Nieder mit Lukaschenko! Aber macht nicht den gleichen Fehler wie die Ukraine es getan hat. Lassen Sie die Heuschrecken nicht an die Macht kommen. Sie werden alles ruinieren und euch alle verraten. Wie ein Partisanenvolk, vertreibt sie! Durch die Wälder und bis zur Grenze. Mit warmen Kartoffeln als Souvenir.
*Zur Zeit ist das Programm auf der Webseite zabelarus.com nicht mehr aufrufbar.
Das Original ist auf Russisch auf www.dadakinder.com publiziert.
Anatoli Ulyanov (geb. 1984/Ukraine) ist ein Schriftsteller, Fotograf, Dokumentarfilmemacher. Co-Kurator des Looo.ch Verlags und des Labors VVHY. Infolge von Verfolgung war er gezwungen, die Ukraine zu verlassen (2009). Ihm wurde in den Vereinigten Staaten politisches Asyl gewährt. Er ist ein Mitglied der Organisation der Demokratischen Sozialisten in Amerika (DSA).